Sven Giegold

Interview mit den Aachener Nachrichten:
„Die pauschale Nörgelei geht mir auf die Nerven“

Aachener Nachrichten, 22.04.2014

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„Die pauschale Nörgerlei geht mir auf die Nerven“

STRASSBURG/BRÜSSEL. Er ist einer der Shooting-Stars des Europaparlaments. Vor fünf Jahren zog Sven Giegold für die Grünen erstmals in das Abgeordnetenhaus. Als Finanzfachmann machte er sich dort fraktionsübergreifend schnell einen Namen. Am 25. Mai will Giegold erneut für seine Partei ins Europaparlament einziehen – als Nummer zwei der grünen Liste in Deutschland.

MITBEGRÜNDER VON ATTAC IN DEUTSCHLAND
Sven Giegold ist Wirtschaftswissenschaftler und Mitbegründer des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac in Deutschland. Im Europaparlament vertrat der 44-Jährige in den vergangenen Jahren die Grünen im Ausschuss für Wirtschaft und Währung. Giegold war maßgeblich an der Ausarbeitung des „Green New Deal“ beteiligt, mit dem die Grünen versuchen, einen sozialen und ökologischen Weg aus der Finanzkrise zu zeigen. (jozi)

Herr Giegold, welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer ersten Wahlperiode mit dem europäischen Politikbetrieb gemacht?

Giegold: Für mich war es eine positive Demokratieerfahrung. Der politische Prozess in Brüssel ist sehr groß. Wer ernsthaft und detailliert an Sachthemen arbeiten will, kann hier gerade als Einzelner in einer proeuropäischen Fraktion sehr viel bewegen.

Trotzdem hat die Europäische Union und auch das Europaparlament bei vielen Menschen inzwischen ein negatives Image.

Giegold: Die pauschale Nörgelei über die europäischen Institutionen geht mir gewaltig auf die Nerven. Sie entspricht einfach nicht der Realität. In Brüssel sind viele gute Sachen auf den Weg gebracht worden. Natürlich werden hier manchmal auch unerträgliche Geschenke an mächtige Interessengruppen verteilt. Aber das ist in der Bundes- und Landespolitik, in Berlin oder in Düsseldorf, nicht anders.

Es existieren viele Klischees über die EU. Eines lautet: In Brüssel regiert eine gewaltige Bürokratie.

Giegold: Der Eindruck ist schlichtweg falsch. In Brüssel gibt es eher weniger Bürokratie als anderswo. Die europäische Verwaltung ist nicht größer als die Kölner Stadtverwaltung.

Union und SPD nehmen diese Stimmung aber inzwischen auf und schießen verbale Pfeile gegen Brüssel.

Giegold: Auch ich kritisiere, dass sich die EU manchmal in viel zu kleinteilige Sachen einmischt. Drollig ist allerdings: In Europa wird kein relevantes Gesetz ohne die Zustimmung der großen Koalition aus Europäischer Volkspartei und Sozialisten verabschiedet. Wenn nun ausgerechnet der Sozialdemokrat Martin Schulz und der Christdemokrat Herbert Reul gegen die angebliche Regelungswut der EU lautstark zu Felde ziehen, dann protestieren sie gegen sich selbst.

Oft ist die Rede davon, das Europaparlament habe nichts zu sagen.

Giegold: Wieder ein falscher Eindruck. Das Parlament ist in den vergangenen Jahren gerade in der Gesetzgebung sehr stark geworden. Allerdings müssen wir Abgeordneten bisher mit einem großen Manko leben: Der Rat der Mitgliedsländer hält das Europaparlament bis heute aus allen Entscheidungen heraus, die das Management der Eurokrise betreffen. Eine parlamentarische Kontrolle der Krisenpolitik findet nicht statt. Das muss sich ändern.

Geklagt wird gerne auch über intransparente Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene.

Giegold: Die Entscheidungsprozesse des Europaparlaments sind transparenter als die des Bundestags. Im Internet kann jede Sitzung des Plenums in allen Sprachen der Europäischen Union verfolgt werden, sogar im Nachhinein.

Derzeit verhandelt die Europäische Union mit den USA über das Freihandelsabkommen TTIP. Die Gespräche werden nicht nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sondern auch ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments geführt. Ist das nicht Wasser auf die Mühlen all jener Kritiker, die Brüssel mangelnde Transparenz vorwerfen?

Giegold: Natürlich ist es das. Liberale, Konservative und Sozialdemokraten haben der EU-Kommission einen Blanko-Scheck für diese Hinterzimmer-Gespräche ausgestellt und ihr ein unerträglich breites Verhandlungsmandat durchgewunken. Aber wieder gilt: Diese Intransparenz ist nicht spezifisch für Europa. Internationale Verhandlungen laufen in Berlin ähnlich ab. Deutschland hat inzwischen rund 130 bilaterale Investitionsschutzabkommen abgeschlossen. Davon ist keines unter den Augen der Öffentlichkeit verhandelt worden.

Auch inhaltlich stellen sich die Grünen gegen TTIP. Was stört Sie an den Plänen?

Giegold: Mit dem Abkommen laufen wir Gefahr, dass Standards in der Umwelt- und Gesundheitspolitik abgesenkt werden und es schwerer wird, sie zu erhöhen. Es ist völlig inakzeptabel, dass künftig ein von Lobbyisten durchsetzter sogenannter Rat für Regulationszusammenarbeit über Veränderungen von Standards vorentscheiden soll. Zudem wehren wir uns dagegen, dass internationale Konzerne Klagerechte erhalten sollen. Konzerne könnten Staaten dann auf Entschädigungen in Milliardenhöhe verklagen, wenn sie Sozial- oder Umweltstandards erhöhen. Sollten diese Pläne Wirklichkeit werden, mauert sich die europäische Demokratie ein. Wir verlieren nämlich die Kontrolle darüber, welche Produkte künftig auf unseren Markt kommen.

Bei den TTIP-Verhandlungen spielen Lobbyisten eine bedeutende Rolle. Überhaupt hat sich in der Öffentlichkeit der Eindruck festgesetzt, dass in Brüssel Interessenvertreter einen viel zu großen Einfluss auf die Politik haben.

Giegold: Dieser Eindruck stimmt. Der größte und mächtigste Lobbyist ist übrigens die deutsche Bundesregierung. Sie vertritt hier ganz massiv Sonderinteressen der deutschen Wirtschaft. Das mussten wir gerade erst wieder beim Klimaschutz erleben. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel haben in Brüssel interveniert und dafür gesorgt, dass es zunächst keine strengeren Abgasnormen für Luxusautos geben wird. Verglichen mit dem, was die Bundesregierung anrichtet, ist der Schaden, den die Autolobby in Brüssel verursacht, eher gering.

Sie haben als Finanzfachmann Ihrer Fraktion an strengeren Regeln für Banken und für die Finanzmärkte gearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie mit Lobbyisten gemacht?

Giegold: Ach, eigentlich rede ich ganz gerne mit Lobbyisten. Wer Gesetze macht, muss auch mit denen sprechen, die sie betreffen werden. Das Problem ist nur, dass in Brüssel mindestens 1700 Lobbyisten aus dem Finanzsektor sitzen, es aber zu Beginn meiner Abgeordnetenzeit ganze zwei Lobbyisten gab, die sich aus der Perspektive des Gemeinwohls mit den Finanzmärkten beschäftigt haben. Dieses eklatante Ungleichgewicht ist eine Gefahr für die Demokratie.

2010 haben Sie die gemeinnützige Organisation „Finance Watch“ mit initiiert. Damit sollte die Macht der Banker ein klein wenig gebändigt werden. Hat das geklappt?

Giegold: Mit „Finance Watch“ haben wir endlich eine Gegenstimme zu den großen Lobby-Organisationen des Finanzsektors, die von der Politik auch durchaus gehört wird. Allerdings stehen „Finance Watch“ weiterhin Wirtschaftsprüfungs-Unternehmen gegenüber, die locker dreistellige Millionenbeträge investieren können, um ihre Oligopole zu verteidigen. Deshalb führt kein Weg daran vorbei: Wir brauchen eine deutlich schärfere Trennung von Wirtschaft und Politik.

Wie weit ist es denn in den vergangenen Jahren trotz des Einflusses von Lobbyisten gelungen, die Finanzmärkte zu regulieren?

Giegold: Es hat tatsächlich eine Zeitenwende gegeben. 20 Jahre lang sind die Finanzmärkte auch von Brüssel aus dereguliert worden, jetzt werden sie reguliert. Dieser Wille ist im Europaparlament parteiübergreifend vorhanden. Allerdings sind die getroffenen Bestimmungen oft sehr kompliziert und detailliert. Viele können umgangen werden. Einfache und harte Regeln wurden zwar immer wieder auch von uns Grünen vorgeschlagen. Sie sind aber von Lobbygruppen und auch von der Bundesregierung systematisch hintertrieben worden.

In welchen Bereichen?

Giegold: Die Bundesregierung lehnt bis heute eine Schuldengrenze für Banken ab. Und sie bekämpft weiter das Trennbankensystem.

Reichen denn die bisher verabschiedeten Maßnahmen, um zu verhindern, dass zusammenbrechende Banken künftig nicht mehr mit europäischen Steuergeldern gerettet werden müssen?

Giegold: Nein! Die verabredete Bankenunion ist zwar ein Quantensprung. Die 130 größten Geldinstitute der EU stehen künftig unter europäischer Direktaufsicht. Das hat zwei Vorteile. Erstens: Die Bankenkontrolle wird deutlich schärfer sein als bisher. Zweitens: Der Wettbewerb um den für Banken günstigsten Finanzstandort innerhalb der EU hört endlich auf. Ebenso sind wir beim Vorhaben, künftig keine Hilfen mehr für Krisen-Banken zu geben, sondern sie wie andere Unternehmen abwickeln zu können, einen Schritt weiter. Doch zur Wahrheit gehört auch: Einige Staaten haben in diese Regelungen dicke Ausnahmen hineinverhandelt. Deshalb kann immer noch niemand versprechen, dass Banken nie mehr mit Steuerzahlergeld gerettet werden.

Inzwischen ist die Euro- und Finanzkrise etwas aus den Schlagzeilen geraten. Teilweise wird sogar behauptet, sie sei überwunden und es stünden nur noch ein paar Aufräumungsarbeiten an. Stimmt das?

Giegold: Überhaupt nicht. Im Vergleich zur Wirtschaftskraft hat sich die Gesamtverschuldung der staatlichen und privaten Haushalte in den westlichen Industrieländern seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 um 30 Prozent erhöht. Die Schuldenblase, der auf der anderen Seite ja immer auch eine Vermögensblase gegenüber steht, wird immer größer. Von daher ist es nur eine Frage der Zeit, bis an irgendeiner Stelle die Schulden nicht mehr beglichen werden können. Wir leben inzwischen in einem sehr hochgehebelten Finanzmarkt-Kapitalismus, der nichts mehr mit einer sozialen Marktwirtschaft zu tun hat. Verantwortlich dafür ist eine Politik, die sich weiterhin scheut, große Vermögen und Kapitalerträge zu besteuern.

Die Bundesregierung hat enormen Druck gemacht, dass in EU-Staaten gespart wird. War das falsch?

Giegold: Nicht unbedingt. In einigen EU-Staaten waren und sind Reformen nötig. Aber die Sparpolitik ist völlig einseitig. Sie vernachlässigt in unverantwortlicher Weise Zukunftsinvestitionen. Unsere Europastrategie 2020 sah Mehrausgaben für Bildung, für Forschung- und Entwicklung, für die Armutsbekämpfung, für den Klimaschutz vor. Damit sollte Europa zukunftsfest gemacht werden. Das alles ist inzwischen nicht nur aus den Augen verloren worden. Wir befinden uns sogar im Rückwärtsgang. Eine Folge davon ist, dass in vielen EU-Staaten die Armut wächst. Gleichzeitig war die Bundesregierung völlig untätig beim Schließen von Steueroasen. Wir erleben immer noch ein Versagen des politischen Krisenmanagements.

Ist das mit ein Grund dafür, dass in vielen EU-Staaten inzwischen Europa-Feindschaft und Nationalismus wachsen?

Giegold: Da gibt es sicherlich einen Zusammenhang. Die von Angela Merkel durchgesetzte Sparpolitik geht einseitig zu Lasten der Mittel- und Unterschicht in den Krisenländern. Die Bundeskanzlerin hat sich in gewisser Weise mit den korrupten Eliten dieser Staaten verbündet. Denn sie hat nie darauf gedrängt, dass in diesen Ländern die Vermögenden kräftiger besteuert werden. Eine gerechte Steuerpolitik und eine gerechte Verteilung der Lasten müssen aber Teil der Krisenpolitik werden. Das ist notwendig, damit die Völker Europas wieder mit Optimismus auf Europa schauen.

Auch die europäischen Sozialdemokraten haben in den vergangenen Jahren das Krisenmanagement der Bundesregierung heftig kritisiert. Seit Monaten sitzt die SPD nun mit in der Regierung. Hat sich dadurch irgendetwas an der deutschen Krisenpolitik geändert?

Giegold: Nein, es gibt keinen Richtungswechsel. Martin Schulz hat als Verhandlungsführer der SPD für den Bereich Europapolitik einen windelweichen Koalitionsvertrag mit der Union abgeschlossen. Er hat in allen zentralen Punkten Merkel nachgegeben. Dass in Koalitionsverhandlungen Kompromisse gemacht werden müssen, wissen wir Grüne nur zu gut. Umso mehr ärgert es mich, dass Schulz als Wahlkämpfer in südeuropäischen Krisenländern ein Ende der Merkelschen Austeritätspolitik fordert, in Deutschland aber mit CDU/CSU die Krisenpolitik von Schwarz-Gelb fortsetzt. Das ist diese Art von Doppelzüngigkeit, die die Leute verärgert. In Europa wird das eine gefordert, zu Hause aber wird das Gegenteil gemacht. Allerdings hat die SPD innenpolitisch etwas erreicht, was auch Europa helfen wird.

Nämlich?

Giegold: Sie hat den Mindestlohn durchgesetzt. Damit wird in Deutschland die Binnenkonjunktur gestärkt. Unseren europäischen Handelspartnern wird das helfen, weil durch die gestiegene Kaufkraft auch die deutschen Importe wachsen werden.

Martin Schulz möchte EU-Kommissionspräsident werden und setzt darauf, dass er im Europaparlament die Stimmen der Grünen bekommen wird.

Giegold: Grüne Stimmen wird es für ihn nur gegen grüne Politik geben. Wir werden Herrn Schulz nur dann wählen, wenn er in puncto Menschenrechte, Klimaschutz und Energiepolitik klare Kante verspricht.

Rubrik: Demokratie & Lobby

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