Sven Giegold

handelsblatt: „Ahnungslose Amtsleiter“

Dieser Artikel erschien im Handelsbatt vin 15.04.2015.

 

Ahnungslose Amtsleiter

Die EU hat Zweifel an der Unabhängigkeit der deutschen Statistikbehörden.
Amtliche Zahlen lügen nicht – jedenfalls nicht in Deutschland. Oder vielleicht doch? Die EU hegt Zweifel daran, ob die Statistikbehörden der Bundesländer wirklich unabhängig sind. Grund dafür sind die Auswahlverfahren für die Amtsleiter. „Die Berufungsverfahren für die Leiter der statistischen Ämter der Bundesländer stehen nicht im Einklang“ mit den EU-Prinzipien, heißt es in einem Brief des zuständigen EU-Überwachungsgremiums an Bundesinnenminister Thomas de Maizière.

Grund für die Beschwerde: Die Chefs der Landesbehörden müssen keine statistischen Fachkenntnisse vorweisen. Außerdem gibt es in der Regel keine externen – und damit für die Öffentlichkeit transparenten – Bewerbungsverfahren. Das Schreiben des Europäischen Beratungsgremiums für die Statistische Governance (ESGAB) an das Bundesinnenministerium stammt vom 7. April. Es liegt dem Handelsblatt vor.

Die Qualität von amtlichen Statistiken ist kein Selbstläufer. Das hat die EU gerade in jüngster Zeit leidvoll lernen müssen. Insbesondere Griechenland fiel in diesem Zusammenhang unangenehm auf: Die Regierung in Athen fälschte ihre staatliche Defizitquote über Jahre immer wieder und löste damit schließlich 2010 die Euro-Schuldenkrise aus. Gezielte Manipulationen dieser Art werden hierzulande zwar nicht vermutet. Gleichwohl gab es auch in Deutschland schon Diskussionen darüber, ob amtliche Zahlen geschönt sein könnten. Das gilt zum Beispiel für die Arbeitslosenstatistik oder für die Inflationsrate.

Die Zuverlässigkeit statistischer Daten ist also ein hohes und schützenswertes Gut. Um sie zu gewährleisten, müssten die Leiter der statistischen Ämter über die entsprechende fachliche Qualifikation verfügen, meint die EU. Genau das ist in vielen Bundesländern jedoch nicht gewährleistet. Zum Beispiel in Niedersachsen: Dort wird derzeit ein neuer Chef für das Statistikamt gesucht. Bewerber müssen „Erfahrung in unterschiedlichen Verwaltungsbereichen“ sowie „ausgeprägte Führungskompetenzen“ mitbringen. Einen Studienabschluss im Fach Statistik benötigen sie dagegen nicht, wie das Landesinnenministerium auf Anfrage bestätigte.

Protest dagegen kommt nicht nur von der EU, sondern auch von Fachleuten in Deutschland. Niedersachsen „fehlinterpretiert diese wichtige Leitungsaufgabe als reine Verwaltungsposition“, schimpft die Deutsche Statistische Gesellschaft, in der 780 Experten organisiert sind. Erschwerend komme hinzu, dass Niedersachsen die Stelle nur intern ausgeschrieben habe. Laut EU-Regelwerk müsste die Ausschreibung aber auch für externe Fachkräfte, etwa renommierte Wissenschaftler, offen sein.
Die Landesregierung Hannover weist die Kritik weit von sich. Der EU-Verhaltenskodex für Statistiken sei nicht rechtsverbindlich, man müsse sich also nicht daran halten, meint ein Sprecher des Innenministeriums.

Europa-Politiker sehen das anders. „Selbst wenn die Qualität der Statistiken in Deutschland wirklich nicht unser größtes Problem ist, gilt auch in Deutschland: Alle müssen sich an die europäischen Regeln halten. Da gibt es keine Extrawurst“, meint etwa der Grünen-Europaparlamentarier Sven Giegold.
Das gilt umso mehr, weil Deutschland gerne die Einhaltung von EU-Regeln bei anderen Ländern einfordert. Deutsche Politiker beklagen zum Beispiel regelmäßig, dass Frankreich und andere die Vorschriften des EU-Stabilitätspaktes nicht respektieren.

Wer anderen Lektionen erteilt und den Musterschüler spielt, muss sich am selbst gesetzten Maßstab messen lassen. Diesbezüglich könnte auf Deutschland noch einiges zukommen. Es gibt auch andere EU-Vorschriften – etwa im Bereich Binnenmarkt – , denen sich der größte EU-Staat bislang entzieht. Die EU-Kommission schaut sich das ganz genau an.

Was die europäischen Statistikregeln angeht, so gibt es für die Bundesländer womöglich bald kein Entrinnen mehr. Die EU berät derzeit eine neue Statistik-Verordnung. Sie soll rechtsverbindlich vorschreiben, dass Behördenleiter eine statistische Qualifikation vorweisen und dass die Stellen extern ausgeschrieben werden müssen.

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